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Die Evangelische Kirche gibt es nur als Bildungsbewegung

Alexander Maurer leitet das neue MEO-Schulreferat

Am 1. Februar hat Pfarrer Alexander Maurer (53) seinen Dienst als Schulreferent im Haus der Evangelischen Kirche in Essen aufgenommen; Vorgänger Dietmar Klinke war Ende November in den Ruhestand getreten. Und noch etwas hat sich geändert: Alexander Maurer leitet das neue "MEO-Schulreferat", das durch entsprechende Beschlüsse von drei Kirchenkreisen gegründet wurde und nunmehr für den Religionsunterricht und die Religionslehrer*innen in den Städten Mülheim, Essen und Oberhausen zuständig ist. Bis zu seinem Wechsel auf die Stelle des Schulreferenten war Alexander Maurer fast 14 Jahre lang Religionslehrer an der Gesamtschule Bockmühle in Essen-Altendorf. Wir haben mit ihm über seine bisherigen Erfahrungen im Religionsunterricht und seine neue Tätigkeit gesprochen.

FRAGE: Welche Aufgaben haben die evangelischen Schulreferent*innen?

ALEXANDER MAURER: Schulreferent*innen sind dazu da, den Religionsunterricht zu stärken, und sie bringen die kirchliche Bildungsverantwortung an dieser Schnittstelle zum Staat, in den Schulen, zum Ausdruck. Konkret heißt das, sie helfen Religionsunterricht zu sichern und bieten Fortbildungen für Lehrkräfte an. Daneben beraten sie die Religionslehrer*innen, begleiten sie in den Schulen und arbeiten im Kommunalen Bildungsnetzwerk mit. Innerkirchlich versuchen sie, eine gute Verbindung zwischen Schulen, Gemeinden und gemeindeübergreifenden Diensten zum Wohle aller zu schaffen.

Im Vordergrund steht für mich das Bewusstsein, dass es Evangelische Kirche nur als Bildungsbewegung gibt. Nur so ist der Erfolg der Reformation für mich erklärbar. Und daher verstehe ich mich als lebendigen Ausdruck unseres kirchlichen Einsatzes an dieser Stelle.

FRAGE: Wie viele Lehrerinnen und Lehrer gibt es in den Kirchenkreisen Essen, An der Ruhr (Mülheim) und Oberhausen?

ALEXANDER MAURER: Aktuell gibt es in allen drei Kommunen zusammengenommen mehr als 10.000 Lehrkräfte, das kann man im Moment ganz gut anhand der Zahlen der in diesen Kommunen Corona-bedingt beschafften Dienst-Tablets abschätzen. In Essen sind es ca. 5500 Lehrkräfte, in Mülheim und Oberhausen zusammengenommen etwas weniger. Darunter sind etwa 660 Religionslehrer*innen, in der einen Schulform mehr, in der anderen weniger.

FRAGE: Das gemeinsame Schulreferat Mülheim-Essen-Oberhausen (MEO-Schulreferat) wurde am 1. Februar neu gegründet. Aber schon vorher haben die Kirchenkreise bei der Fortbildung von Religionslehrerinnen und Religionslehrern kooperiert, zum Beispiel ihre Fortbildungen in einem gemeinsamen Programm veröffentlicht. Woran werden Sie anknüpfen, was wird neu sein?

ALEXANDER MAURER: Die Schulreferate im Kooperationsraum Mülheim, Essen und Oberhausen haben eine lange und großartige Fortbildungstradition. Dabei wurden immer die unterschiedlichen fachlichen Bedürfnisse der Schulformen berücksichtigt, aber auch die Bedürfnisse der Lehrkräfte, sich zu begegnen und persönlich weiter zu entwickeln. Die Gastfreundlichkeit eines Schulreferats habe ich selbst immer sehr geschätzt. Mir ist wichtig, an diese Tradition anzuknüpfen, damit „Kirche“ für Religionslehrkräfte als gute Gastgeberin erscheint und auch Heimat bietet.

Zu dem Neuen gehört vor allem, dass das Bewusstsein gemeinsam an den Start zu gehen wachsen muss, in Zukunft wird es eben EIN Schulreferat der drei Kirchenkreise von Essen aus geben. Zugleich wissen wir aus Gemeinden, aber auch den gemeindeübergreifenden Diensten, dass kurze Wege und ortsnahe Ansprechpartner*innen sehr hilfreich sind. Diese Verbindung muss uns gelingen, z.B. durch die Verteilung von Veranstaltungen im Kooperationsraum, verstärkt auch dezentral in Gemeinderäumlichkeiten. Im großen MEO-Raum wird es sicher auch regionalisierte Treffen geben, weil z.B. die Religionslehrer*innen in den Grundschulen sich kaum untereinander vernetzen können und dann nicht noch große Entfernung zurücklegen, um sich zu begegnen.

Nach außen muss ein neuer, vereinter Internetauftritt her. Denn die Erfahrungen der vergangenen Monate zeigen ja auch: Die Kolleginnen und Kollegen holen sich die Angebote nicht mehr nach Kirchenkreisgrenzen und aus Veranstaltungsheften, und auch die staatliche Lehrkräfteausbildung hat ganz andere Zuständigkeitsgrenzen als die unserer Kirchenkreise. Online-Präsenz und Online-Fortbildungsformate werden auch nach dem Ende der Corona-Pandemie eine starke Rolle spielen.

FRAGE: Im Moment finden aufgrund der Corona-Pandemie keine Fortbildungsveranstaltungen in Präsenz statt. Worauf freuen Sie sich in den nächsten Wochen und Monaten mit Blick auf Ihre Tätigkeit besonders? Was wollen Sie in Ihrer neuen Funktion als erstes in Angriff nehmen?

ALEXANDER MAURER: Es sind die ersten Kontakte, die mir Freude machen. Die Zusammenarbeit nach innen, die Verknüpfungen mit anderen Gemeindeübergreifenden Diensten, der Aktion Menschenstadt oder den Berufsschulpfarrer*innen, und nach außen die ersten Kontakte zu den Studienseminaren, den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) in Oberhausen und Essen, oder zur Alten Synagoge. In diesem Jahr feiern wir 1700 Jahre Juden in Deutschland. Und da wäre es schon toll, wenn wir auch mit dem MEO-Schulreferat gemeinsam etwas auf die Beine stellen. Und dann hat mich zu Beginn der theologische Nachwuchs überrascht. Wir sind in der glücklichen Situation, dass in Oberhausen eine und in Essen zwei Vikarinnen ab April starten, und die beginnen ihren Dienst mit einem ausführlichen Schulvikariat.

FRAGE: Gibt es ein besonderes Menschenbild, das dem evangelischen Religionsunterricht zugrunde liegt? Wodurch ist es charakterisiert?

ALEXANDER MAURER: Es ist ganz einfach (und daher zum Glück auch nicht nur rein „evangelisch“): Wir sind Menschen in der Beziehung zu Gott und in der Beziehung untereinander. Beides ist für uns Entlastung und auch Anspruch: Nichts muss ich allein schaffen, aber die Welt zum Besseren gestalten, dafür bin ich schon auch mitverantwortlich. Das lässt sich an vielen Stellen dann durchbuchstabieren: Beim Klimawandel, bei der Digitalisierung, der Friedensfrage und anderen. Viel schwerer als die Frage nach dem Menschenbild zu beantworten, ist es aber dann, auch etwas daraus zu machen, in den Schulen und den Gemeinden und eigentlich ja auch in unser aller persönlichem Leben!

FRAGE: Die Vorstellung, die sich junge Menschen von Gott machen, kann sehr unterschiedlich zu sein – manche denken Gott als eine „Person“, die Menschen konkret helfen kann, andere finden ihn „in der Stille um uns herum“. Spielen besondere Gottesbilder im Religionsunterricht heute überhaupt noch eine Rolle?

ALEXANDER MAURER: Absolut ja, und es ist die gesamte Bandbreite vertreten: Personale Gottesvorstellungen, aber auch unpersönliche oder auch ein Sinn des Lebens ohne Gott. Aber wenn ich eben gesagt habe, wie für mich das Menschenbild des Religionsunterrichts aussieht, diese Beziehung, die darin steckt, dann heißt das hier aber jetzt auch: Das macht niemand nur mit sich selber aus, da geht es um Erfahrungen, um Erlebtes, da geht es dann für mich mit den Schüler*innen nicht um Begriffe und Lehren, sondern um die Frage: Was hat das mit mir und dir zu tun, was bedeutet es für uns, wenn du oder ich so von Gott reden? Und das machen wir dann auch genauso, wenn jemand sich ohne religiöse Bezüge versteht.

FRAGE: Jenseits von Lehrplänen haben junge Menschen besondere Sorgen und Nöte, die um existenzielle Fragen, den Sinn des Lebens, das Aufwachsen in einer unübersichtlichen und leistungsorientierten Gesellschaft, eine ungewisse Zukunft oder die Herausforderung der Digitalisierung kreisen. Kann der Religionsunterricht bei der Suche nach Antworten helfen?

ALEXANDER MAURER: Ich bin der festen Überzeugung, der Religions- oder der Philosophieunterricht ist Teil dieser Suche. Und für mich bedeutet das auch zunächst gar nicht einmal so sehr, Antworten zu geben, sondern die Fragen zu finden, die Fragen zu stellen, die uns wirklich wichtig sind. Wir leiden heutzutage an einem Überangebot von Antworten und einem Mangel an echter Fragwürdigkeit. Ich erlebe es oft, dass das echte Fragen gar nicht mehr stattfindet, sondern Schülerinnen und Schüler sich so leicht von Antworten beeindrucken lassen untereinander oder aus dem Internet, weil es eben so viele und so leicht greifbare im Angebot gibt.

Also meine ich, es ist gut, wenn wir nicht einfach christliche Gedanken als eine von vielen möglichen Antworten auch noch in den Markt zu werfen, sondern erst einmal die Menschen und ihr Leben kennenlernen und ihre Fragen herausbekommen. Auch auf die Gefahr hin, dass die Fragen und ihre Beantwortung am Ende vielleicht gar nicht so sind, wie wir das vielleicht möchten. Wenn meine Schüler*innen mich gefragt haben, was würden Sie tun, wenn ihr Sohn zum Islam konvertiert, da haben sie mal eine echte Frage gestellt, und irgendwelche theologische Wahrheiten helfen Ihnen und den Schüler*innen da gar nicht. Aber wenn Sie dann rausbekommen, worum es geht, dann haben Sie wahnsinnig tolle Unterrichtssituationen, geht’s um Religion und Macht, Identität, Ängste, die Wahrheitsfrage? Und das gehört für mich auch dazu, wenn ich mit dem aktuellen Lehrplanprinzip der Kompetenzorientierung ernst mache. Was bedeuten denn Kreuzestheologie oder die Barmer Theologische Erklärung, die Hiob-Erzählung oder die Gleichnisse, wenn ich die Beziehung zu diesen Traditionen nicht lebendig machen kann?

FRAGE: Stimmt es, dass Religionslehrerinnen und Religionslehrer immer auch ein wenig seelsorglich tätig sind? Können Sie uns ein oder zwei konkrete Beispiele nennen?

ALEXANDER MAURER: Na klar, und ich würde noch viel weiter gehen und sagen, dass alle Lehrer*innen seelsorglich tätig sind, wenn sie denn das Wort für sich so in Anspruch nehmen würden. Und ich meine, dass wir nicht, weil wir Religionslehrer*innen sind, automatisch die besseren Seelsorgerinnen sind. Da sind ja nicht immer nur die ausführlichen Auseinandersetzungen und Beschäftigungen, wenn jemand im Umfeld gestorben ist oder das Zuhause einem um die Ohren fliegt. Sondern manchmal sind es genauso wie in einer Gemeinde die kurzen Begegnungen, die Fünf-Minuten-Gespräche, die wir Erwachsenen ebenso wie die Schüler*innen als wohltuend und wertschätzend empfinden.

Wir reden ja heute eigentlich nur noch von Ganztagsschulen. Da verbringen die Schüler*innen oft die meiste wache Zeit des Tages. Da spielt sich auch das volle Leben ab, und als Klassenlehrer*in oder als (Reli-)Fachlehrer*in können sie das doch gar nicht ausblenden. Es wäre schön, als Kirche diesen menschlichen Einsatz füreinander und miteinander besonders zu würdigen durch Zeit und Zuhören und eben wieder – Begegnungsmöglichkeiten. Aber um es einmal konkret zu machen, die letzte vielleicht im klassischen Sinn seelsorgerliche Begegnung hatte ich vor ein paar Monaten, als ich zuletzt mit Schüler*innen in einem Klassenraum war. Wir hatten zu einem bestimmten Thema Mini-Bücher in der Lerngruppe gefaltet, um darin Gedanken zu sammeln. Eine Schülerin fragte dann: Kann ich noch eins machen. Und ich: Wofür? Und dann ging’s los: Meine Mutter, die hat heute Geburtstag, aber... Ja, und dann haben sie vielleicht etwas Zeit, und wenn das in der Stunde nicht geht, dann eben danach, und sie spüren spätestens dann, warum es gut ist, heute in der Schule zu sein. Eine tolle Erfahrung!

FRAGE: Sie waren vorher Lehrer für Evangelische Religion an der Gesamtschule Bockmühle in Altendorf, die in den Medien oft als „Brennpunktschule“ bezeichnet, im schlimmsten Fall auch stigmatisiert wird. Inwiefern hat Sie die Arbeit dort geprägt? Welche der Erfahrungen, die Sie dort gewonnen haben, können Sie in Ihrer neuen Tätigkeit besonders gut gebrauchen?

ALEXANDER MAURER: Wenn Sie in der Bockmühle ankommen, merken sie, dass die Wahrnehmung von außen trügt und viel eher etwas mit dem Stadtteil zu tun hat. Natürlich ist da immer was los, aber es ist eben auch ein wahnsinnig erfolgreiches „Unternehmen“, wenn sie sehen, was so eine Schule alles stemmt: Da sind so viele Förderschüler*innen wie sonst an einer eigenen Schule in eine riesige Gesamtschule integriert, da werden Dutzende Sprachseiteneinsteiger gefördert. Da kommen die Schüler*innen aus allen Stadtteilen und mit allen erdenklichen Wurzeln.

Hier müssen wir Menschen stark machen, ihr Leben mit sich und anderen auszumachen, das ist eine unglaubliche Herausforderung und etwas, das ich mir vor meiner Zeit an der Bockmühle in diesem Ausmaß nicht vorstellen konnte. Und ich meine das nicht nur pädagogisch, sondern bildungspolitisch: Ich bin sicher, dass weite Teile der Bevölkerung, die mit Schule und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, Inklusion und Vielfalt nicht so viel zu tun haben, sich das auch nicht ansatzweise vorstellen können, was Schulsysteme wie die Gesamtschule Bockmühle für uns alle leisten. Und ich kann als Schulreferent die Perspektive, mit der die meisten Kolleg*innen in unserer Region heute arbeiten, dadurch erst verstehen. Als ich mich von meinem Religionskurs in der Qualifizierungsstufe 2 verabschiedet habe, habe ich denen gesagt und das meine ich auch so: Ohne euch hätte ich viel von der Welt nicht kennengelernt. Das ist ein Reichtum in der Vielfalt und den kulturellen Gründen, den ich so nie erlebt hätte, wenn es diese Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern nicht gegeben hätte.

Diese Vielfalt hat die allermeisten Themen auch im Religionsunterricht oft erst relevant gemacht. Glaubst du das wirklich? Nein, das darf man nicht! Und dann geht’s los. Das ist unbezahlbar, wenn sie so viel Leben in ihrem Reli-Kurs haben. Das hat mich gelehrt, dass wir auch als Kirche nur relevant sind, wenn wir ganz nah bei diesen Menschen sind. Und das wird in Zukunft noch viel wichtiger werden, wenn wir nicht zu einer kleinen Dienstleistungsgemeinschaft für besondere evangelische Gruppen werden wollen. Werden wir uns auf dem Weg der Digitalisierung von dieser Begegnung verabschieden, unser Leben in kleinen Inseln leben, die sich nur ab und zu und auf Distanz begegnen, wie im zurückliegenden Jahr, oder werden wir uns der Integration, der Inklusion, dem Zusammenleben in Verschiedenheit auch wirklich wieder auch körperlich stellen? Das ist eine Frage an uns alle: Wie wollen wir leben?

FRAGE: Seit 2018 können Schulen in Nordrhein-Westfalen auf Antrag einen Konfessionell-Kooperativen Religionsunterricht (KoKoRU) durchführen, an dem evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler gemeinsam teilnehmen. Die dabei eingesetzten Lehrkräfte besuchen zuvor Fortbildungen, die von den Schulreferaten der beiden großen christlichen Kirchen in ökumenischer Zusammenarbeit angeboten werden. Hat sich diese Form des Religionsunterrichts bewährt? Worin liegen ihre Stärken? Was muss dabei beachtet werden?

ALEXANDER MAURER: Zunächst einmal: das Interesse an der Einrichtung des Konfessionell-Kooperativen Religionsunterrichts ist groß, vor allem in der Grundschule und in der Sekundarstufe I, und Modellprojekte in den Berufsbildenden Schulen laufen auch schon, eines z.B. in Essen. Hier lässt sich am Beispiel der Bildungsgänge ganz gut klarmachen, weshalb das dringend nötig ist: Im Berufskolleg im Bildungspark werden viele Erzieher*innen ausgebildet. Wie gehen wir am besten mit dem Thema „religiöse Bildung“ um? Doch wohl im 21. Jahrhundert in unserem Bereich nur noch integriert, denn genauso gemischt werden ja die Begegnungen später auch in den Kindertagesstätten sein, egal unter welchem Dachverband die Erzieher*innen dann arbeiten. Interkulturelle und hier speziell interreligiöse Kompetenz zu erwerben, ist mit dem KoKoRU nicht mehr ein zusätzliches Ergebnis neben der Ausbildung, sondern fester Bestandteil davon.

Ich freue mich natürlich auch drüber, dass mit KoKoRU eine jahrzehntealte gute Praxis in vielen Schulen jetzt konzeptionell einmal aufgearbeitet wird. Und ich hoffe, dass es dabei nicht bleibt, sondern gerade die Kirche sich dafür einsetzt, dass Religionsunterricht ein Bildungsbestandteil wird, der die Vielfalt religiöser Bildung in der Begegnung aufnimmt – denn das ist ja lebensweltliche Realität. So würde ich als Schulreferent für mich das Motto des Weges der Evangelische Kirche in die Zukunft durchbuchstabieren („Lobbyistin der Gottoffenheit“ zu sein, so hat das die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland 2021 genannt und beschlossen).

FRAGE: Immer weniger Schülerinnen und Schüler sind getauft oder an eine Konfession gebunden. Der Anteil an Schülerinnen und Schülern, die einer anderen Religion angehören, Agnostiker oder Atheisten sind, nimmt zu. Wird der Religionsunterricht dadurch erschwert? Wie sieht ein „guter“ Religionsunterricht aus, der diese Herausforderung annimmt?

ALEXANDER MAURER: Dazu habe ich ja oben aus der Erfahrung heraus schon viel gesagt. Auf den Punkt gebracht, ist guter Religionsunterricht immer dialogisch angelegt, unabhängig davon, wie homogen oder heterogen Lerngruppen sind. Heterogene Lerngruppen haben den Vorteil, dass sie reale Herausforderungen in der Begegnung schon abbilden, die ich in gut sortierten Gruppen erst erzeugen muss und die leider dort oft auch oberflächlich bleiben. Das ist eben die Sache mit der Fülle der vorhandenen Antworten! Natürlich ist Unterricht auch immer eine Inszenierung, allerdings gelingt sie viel einfacher und lebensnäher, wenn die Schüler*innen selbst sie gestalten.

FRAGE: Obwohl es mit dem Schulfach Praktische Philosophie seit 1997 auch in Nordrhein-Westfalen eine „säkulare“ Alternative gibt, besuchen auch hier weitaus mehr Schülerinnen und Schüler den konfessionellen oder konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Was macht die besondere Stärke des (evangelischen) Religionsunterrichts aus?

ALEXANDER MAURER: Der Religionsunterricht ist ein besonders offenes Geschehen, es gibt nichts, das nicht irgendwie auch mit dem Religionsunterricht zu tun. Und das heißt, er hat in besonderer Weise den ganzen Menschen im Blick und seine Entwicklung. Das ist ein besonderes Geschenk, das uns unser Grundgesetz bis heute macht, ein staatliches Interesse an diesem Bildungsbestandteil, und wir tun gut, dem Staat gegenüber auch in der aktuellen Situation mit den Ideen, den Fantasien und Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu begegnen, religiöse Bildung zu gestalten.

Für mich ist an dieser Stelle die Abgrenzung vom Philosophieunterricht nicht prinzipiell bedeutsam. Wir haben längst gelernt, dass auch atheistische Positionen zur Auseinandersatzung im Religionsunterricht gehören genauso wie philosophische Grundlagen. Es gibt vielleicht manchmal einen praktischen Grund, warum noch viele diesen Unterricht besuchen: Es ist gerade in der Altersstufe, in der sich die Gruppen aufgrund der Religionsmündigkeit bewusst differenzieren (nach der 8. Klasse) so, dass die Frage nach der eigenen Identität nach innen und außen enorm an Gewicht zunimmt und da verspricht die Teilnahme am evangelischen, katholischen oder islamischen Religionsunterricht eine Menge für die Schüler*innen, weil Religion ein inhaltsstarkes Thema ist. In der Sekundarstufe II bildet das Fach oft eine Perspektive für diejenigen Schüler*innen, deren Religion nicht als Unterrichtsfach im Fächerkanon vertreten ist, nach dem Motto: „Lieber irgendeinen Religionsunterricht als keinen“ – auch das spricht für sich, finde ich, und verlangt von uns bei der Gestaltung noch einmal besondere Aufmerksamkeit und Verantwortung.

FRAGE: Haben Sie ein persönliches Leitbild für Ihre Arbeit?

ALEXANDER MAURER: Die großen, auch kritischen pädagogischen Erkenntnisse und bildungspolitisch vernünftigen Forderungen liegen seit Jahrzehnten offen vor uns. Ein tolles Beispiel sind dabei für mich immer wieder die „15 Thesen zur Verantwortung der Evangelischen Kirche in Essen für Bildung und Erziehung“, die die Synode des Kirchenkreises Essen im Jahr 2003 verabschiedet hat. Wir brauchen keine neuen Definitionen, keine anderen Richtungen, wir müssen immer wieder loslegen, um ein Stück weiterzukommen mit dem, was uns immer schon vor Augen stand. Die Begriffe dafür sind alt, und ich merke, dass wir gar nicht so sehr neue Ideale oder Leitbilder brauchen, sondern unsere Kraft eher dafür einsetzen müssen, sie Wirklichkeit werden zu lassen. „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ hat Hartmut von Hentig 1984 gesagt, und über 350 Jahre zurück liegt der Hinweis von Johann Amos Comenius, der es als große Weisheit bezeichnet hat, dass Schulen „Werkstätten der Menschlichkeit“ sind. Begegnung und Entwicklung sind die Zauberworte für eine Umsetzung, in der Schule genauso wie für die Arbeit im Schulreferat.

Ja, und was die Haltung angeht, die so etwas möglich macht, würde ich sagen: ohne Angst an die Sachen rangehen. Ohne Angst lernen, ohne Angst arbeiten und ohne Angst in die Zukunft sehen, das wär’s für mich – und da fühle ich mich dann auch ganz und gar evangelisch.

ZUR PERSON: ALEXANDER MAURER

Alexander Maurer wurde am 10. Dezember 1967 in Saarbrücken geboren und hat in Saarbrücken, Göttingen und Bonn Evangelische Theologie sowie – bis zum 1. Examen 1995 – auch Chemie, Archäologie und Philosophie studiert. Anschließend war er fünf Jahre lang als Wissenschaftliche Hilfskraft an der Theologischen Fakultät der Universität Götting tätig. Sein Vikariat und den Probedienst absolvierte Alexander Maurer von 2002 bis 2006 in der Evangelischen Kirchengemeinde Margarethenhöhe (heute: Emmaus-Gemeinde); 2003 legte er das 2. Examen ab. Zeitweilig – von November 2004 bis Februar 2005 – erteilte er während dieser Zeit vertretungsweise Religionsunterricht am Hugo-Kükelhaus-Berufskolleg in Essen. Vom 26. Februar 2007 an war Alexander Maurer als Religionslehrer an der Gesamtschule Bockmühle in Altendorf – die in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen bringt er seit dem 1. Februar dieses Jahres in seine neue Tätigkeit als Schulreferent der drei Kirchenkreise An der Ruhr (mit Sitz in Mülheim), Essen und Oberhausen („MEO-Schulreferat“) ein. Alexander Maurer ist verheiratet mit Susanne Gutjahr-Maurer, Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Essen-Frohnhausen, und Vater dreier erwachsener Kinder.

 

 

 

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